Dachdeckerei Angerstein aus Scheppau ist 75 Jahre alt
Jochen Angerstein spricht über Veränderungen im Handwerk. Von der Regierung fordert er besser durchdachte Konzepte in Sachen Klimawandel.
Scheppau. Die Dachdeckerei Angerstein in Scheppau feiert dieser Tage ihr 75-jähriges Bestehen. Am 2. Juni soll die große Fete stattfinden. Der Architekt Jochen Angerstein führt das Unternehmen nun in dritter Generation. Im Gespräch blickt er zurück, wagt aber auch einen Blick auf die aktuelle Lage im Handwerk und an der Klimafront. Angerstein hält den derzeitigen Kurs der Regierung grundsätzlich für richtig, beschlossene Maßnahmen und deren geplante Umsetzung nennt er allerdings rein ideologisch gesteuert und deutlich zu kurz gedacht.
Herr Angerstein, Unternehmensgründung 1948, wie sah das aus?
Heute kaum mehr vorstellbar: Opa hat mit einem Handkarren ganz alleine die Höfe und Dörfer in näherer Umgebung abklappert, um seine Dachdeckerleistungen anzubieten. Parallel dazu hat er seinen Meisterbrief gemacht, und das mit einer Frau und zwei kleinen Kindern daheim.
Am 1. April 1974 hat Ihr Vater übernommen. Wie hat sich das Dachdeckerhandwerk über drei Generationen verändert?
Das erkläre ich gern anhand der Funktionsschichten eines Daches. Zu Zeiten meines Großvaters hatten wir bei Steildächern auf den Sparren die Lattung. Darauf kamen dann entweder Braunschweiger Linkskremper oder Hohlpfannen. Wir hatten also zunächst eine Funktionsschicht. Dann kamen nacheinander die Unterspannbahn, die Wärmedämmung und die Dampfsperre. Das sind vier Funktionsschichten als Minimum.
Im Flachdachbereich wurde damals mit Teerkochern gearbeitet. Der Steinkohleteer kam bei 200 Grad mit Quasten und Eimern in drei Schichten samt Einlagematerial auf das Dach. Heute haben wir hochtechnisierte Funktionsschichten.
Aber es ist nicht nur die Arbeit auf der Baustelle, die sich verändert hat …
Nein. Materialmix, komplexe Systeme, die Technik, Ansprüche und Anforderungen, wie die DIN und Ausführungsregeln – ein Handwerker muss heute auch Berater sein, sich fortlaufend weiterbilden, und das würde ich zumindest für jeden Meister zur Pflicht machen. Die Materie insgesamt ist komplizierter und vielschichtiger geworden, mal ganz abgesehen vom bürokratischen Aufwand, der viel Zeit kostet.
Auch das Personal tickt heute anders …
Allerdings. Es gibt eine Episode aus unserem Unternehmen. Am 1. April 1974 begrüßte mein Opa zum letzten Mal die Belegschaft und zudem einen jungen Lehrling, wie es damals hieß. Ihn habe ich in der dritten Generation in den Ruhestand verabschiedet.
Und in Sachen Auszubildende?
Das ist schwierig geworden, weil oft Ansprüche und Erwartungen nicht mit der Realität des Berufes überein zu bringen sind. Natürlich sind wir auf Auszubildende angewiesen und nehmen inzwischen jeden Bewerber, der schlicht richtig motiviert ist. Mehr fordere ich nicht, nur Motivation. Ich glaube, der Generation „Z“ fehlt es am Willen, Verantwortung zu übernehmen. Doch genau das muss man als Handwerker, nämlich in Form der Entscheidungen, die man laufend fällt.
Keine guten Voraussetzungen für die Bewältigung anstehender Herausforderungen. Welche sind das?
Da dominiert der Klimawandel einhergehend mit den Themen Heizung, Photovoltaik und Wärmedämmung. Da stehen wir vor mehreren Problemen, die ineinander greifen.
Als da wären?
Fangen wir mit dem Klimaziel an. Das ist richtig, nur der Weg dorthin ist aus meiner Sicht falsch. Der Staat erwartet von den Menschen, dass sie Photovoltaik auf ihre Dächer packen. Es macht aber keinen Sinn, alte Dächer mit Solartechnik zu belegen. Stattdessen soll eine Wärmepumpe das Haus mit dem alten ungedämmten Dach erwärmen. Das ist zu kurz gedacht.
Aber wie soll es sonst funktionieren?
Es muss klar sein, dass Photovoltaikanlagen nur auf sanierten, gedämmten oder neuen Dächern sinnvoll sind. Dafür muss es eine Doppelförderung geben, für die Sanierung und für die Solartechnik. Dann braucht es auch keine überdimensionierte Wärmepumpe.
Und wer soll die Anlagen auf die Dächer bringen?
Abgesehen davon, dass weder Photovoltaik noch Wärmepumpen in der Menge verfügbar sind, wie nötig wäre, hängt es auch am Personal. Es dauert sieben bis zehn Jahre, bis aus einem Lehrling im Dachdeckerhandwerk ein echter Fachmann geworden ist. Etwa 100000 Menschen arbeiten gewerblich im Dachdeckerbereich. Mehr waren bislang nicht nötig, weil wir eine Dachsanierungsquote von 1 hatten, heißt: Alle 100 Jahre kommt ein neues Dach auf’s Haus.
Das spricht für die Qualität …
Aber gegen die Klimaziele. Um die zu erreichen, bräuchten wir eine Quote von 2, also alle 50 Jahre ein neues Dach, und damit auch doppelt so viele Fachkräfte. Hinzu kommen eine Viertelmillion fehlende Fachleute für den Einbau der Photovoltaiktechnik. Vom SHK-Gewerbe noch nicht gesprochen. Wo die herkommen sollen, ist mir schleierhaft. Ich glaube, dass die aktuelle Politik ideologisch motiviert und nicht faktenbasiert ist.
Aber die Ziele stehen.
Wir arbeiten daran.
Das Gespräch führte Erik Beyen. Es erschien am 1. Juni auch in den Helmstedter Nachrichten.
Fakten zur Dachdeckerei Angerstein GmbH
03.03.1948: Gründung durch Ernst Angerstein, Eintragung in die Handwerksrolle
01.04.1974: Übergang Siegward Angerstein
1976: Umzug nach Bornum
2003: Umwandlung in eine GmbH
01.04.2004, Jochen Angerstein wird geschäftsführender Gesellschafter
2006: Einzug in die heutigen Räume in Scheppau
Anlässlich des Jubiläums widmet die Kreishandwerkerschaft Helmstedt-Wolfsburg der Dachdeckerei Angerstein eine Folge ihres Podcasts „Handwerk-Talk“ . Jochen Angerstein blickt zurück und spricht die aktuellen Probleme im Handwerk sowie im Lande schonungslos an.
Der Handwerk-Talk, Episode 2 Teil 1: 75 Jahre Dacheckerei Angerstein